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05.07.2017

Es ist normal, verschieden zu sein - Beim Fachtag diskutierten Expertinnen über das Modell Familie

„Familie – Aufbruch zu neuen Ufern?“ titelte ein Fachtag, zu dem das SOS-Kinderdorf Saar mit seinem Mehrgenerationenhaus gemeinsam mit der Gleichstellungsstelle des Landkreises Merzig-Wadern am Freitag, 30. Juni, eingeladen hatte. 30 Fachkräften aus unterschiedlichen pädagogischen Praxisfeldern waren anwesend, Referentin war Prof. Dr. Christel Baltes-Löhr.

Baltes-Löhr forscht an der Universität Luxemburg zu Identität, Geschlechtlichkeit und Migration. In ganz Europa ist sie als Leiterin der Gender Expert Group unterwegs und war bis 2016 Genderbeauftragte an der Luxemburger Universität.
Seit kurzem arbeitet sie ehrenamtlich an der Erstellung eines Frauenarchivs in Trier mit und ist aktiv bei den „Pulse of Europe“-Veranstaltungen in Trier.

Heute sind viele Formen von Familie bekannt, die klassische Kleinfamilie mit Vater, Mutter, Kindern gilt immer noch als das gesellschaftliche Ideal. Die Realität weist jedoch eine Vielzahl anderer Lebensmodelle auf. „Wir sind geprägt und orientieren uns an Zuschreibungen zu unserem Geschlecht als Frau oder Mann. Rollenverhalten, alltägliche und berufliche Entscheidungen sind trotz aller Gleichstellungsbestrebungen immer noch sehr stark an Geschlechterzuschreibungen orientiert“, so Professorin Baltes-Löhr. Dem stellte sie das von ihr entwickelte Modell des Kontinuums gegenüber: Kein Mensch ist ausschließlich typisch Frau oder Mann, in jeder und jedem stecken vielfältige Eigenschaften und Möglichkeiten.
Sie plädierte für eine offene Geschlechtererziehung, die sowohl Mädchen/Frau als auch Junge/Mann zulässt, ein Zwischen-Frau-Mann oder vielleicht auch ein Geschlecht, das heute noch nicht definiert ist. Eine solch offene und tolerante Erziehung hätte Auswirkungen: Die Wertschätzung des einzelnen in seinem Sosein und seiner Vielfalt würde die gesamte Gesellschaft stärker öffnen und zum Beispiel Integration erleichtern, so die Meinung der Professorin.

In einem zweiten Teil des Fachtages nahmen Expertinnen unterschiedlicher Bereiche Stellung zum Thema und diskutierten mit den Teilnehmenden.

Die Expertinnen zum Thema Familie diskutieren über Berufstätigkeit, Umgang mit modernen Medien und arbeitende Mütter
Die Expertinnen zum Thema Familie diskutieren über Berufstätigkeit, Umgang mit modernen Medien und arbeitende Mütter

Die Expertinnen zum Thema Familie diskutieren über Berufstätigkeit, Umgang mit modernen Medien und arbeitende Mütter

Anja Hexamer, langjährige Leiterin von PEKIP-Gruppen und Netzwerkerin beim Familienzentrum Perl-Mettlach, erlebt, dass sich Familien sehr unter Druck setzen, um gesellschaftlichen und persönlichen Ansprüchen zu genügen. „Vor Jahren passte sich die Umgebung den Bedürfnissen der Kinder an, heute erlebe ich es umgekehrt: Die Kinder müssen sich den Erfordernissen der Umgebung anpassen“, so Anja Hexamer. Habe sich vor 20 Jahren eine Frau rechtfertigen müssen, wenn sie vor dem dritten Lebensjahr des Kindes ihre Berufstätigkeit wieder aufgenommen habe, so müsse sie sich heute rechtfertigen, wenn sie länger als ein Jahr Erziehungszeit nehme. Sie plädierte dafür, Familien in ihrer Erziehungsaufgabe mehr zu stärken.

Nicole Nüttgens, Referentin bei der Landesmedienanstalt Saarland, ist in allen Schulformen unterwegs, um Schülerinnen und Schülern den Umgang mit modernen Medien altersgerecht zu vermitteln und Eltern zu beraten. Sie warnte vor dem zu frühen Umgang von Kindern mit Smartphone, sozialen Netzwerken und Spielkonsolen. Der Griff zu Handy und PC geschehe zu leicht, wenn Kinder als störend empfunden würden. Sie machte den Erwachsenen Mut, sich Zeit zu nehmen, sich über Nutzungsbedingungen und -möglichkeiten zu informieren und ihre Kinder im Umgang mit modernen Medien zu begleiten. Auch der Griff zu altbewährten Gesellschaftsspielen sollte als gemeinsames Erlebnis mit Spaßfaktor wieder in Erinnerung gerufen werden.

Chaima Jabali flüchtete vor eineinhalb Jahren mit ihrer Familie aus Syrien nach Deutschland. Die junge Frau hat inzwischen die deutsche Sprache recht gut erlernt und besucht eine weiterführende Schule in Merzig. Sie ist für ihre Eltern manchmal Mittlerin zwischen zwei Kulturen und überrascht, welche Vorurteile ihr in Deutschland zu ihrer Herkunft, ihrer Rolle als Frau und ihrem (Familien)leben begegnen.

Dorothee Merziger, Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt bei der Agentur für Arbeit Rheinland-Pfalz/Saarland, hat einen Arbeitsschwerpunkt in der Beratung von Berufsrückkehrern, die in der Regel Frauen sind. Sie plädiert dafür, dass Frauen in ihrem Bewusstsein gestärkt werden, selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen zu können. Frauen übernehmen nach wie vor den stärkeren Part in der Kindererziehung und arbeiten Teilzeit. Zerbricht die Ehe später, sind die Frauen in der Regel finanziell nicht gut aufgestellt, so die Meinung von Dorothee Merziger.

Eine Art Beipackzettel, auf dem alle wichtigen Konsequenzen bei persönlichen Entscheidungen wie Eheschließung und Ehevertrag, Abschluss von Arbeitsverträgen, Befristungen notiert sind, möchte Bernadette Schroeteler, Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises Merzig-Wadern, jungen Menschen mit auf den Weg zu geben. Sie sollten schon frühzeitig über Chancen und mögliche Stolpersteine aufgeklärt werden, die ihre Lebens- und Berufsentscheidungen nach sich ziehen können. In ihrer Arbeit ist die Gleichstellungsbeauftragte häufig mit der finanziellen Not von Familien und Frauen konfrontiert, die trotz Erwerbstätigkeit den Lebensbedarf der Familienmitglieder kaum decken können. Hier erübrigt sich die Frage, ob beide Partner berufstätig sein möchten.

In der Podiumsdiskussion wurde deutlich, welchen vielfältigen Aufgaben sich Familien heute stellen müssen und wieviel Druck sie erleben und sich teilweise selbst auferlegen. Vielfalt, Toleranz, Zusammenhalt, Geborgenheit, Identität finden waren Synonyme, die die Teilnehmenden am Ende des Fachtages als Lebenswirklichkeit heutiger Familien und als Zukunftsaufgabe sehen.

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